6. Juli 2022

Positionspapier der GRÜNEN JUGEND Hamburg zu den Entwürfen der Bildungspläne der Schulbehörde



Wir als GRÜNE JUGEND Hamburg begrüßen allgemein eine Reform der Bildungspläne. Die nun vorgeschlagenen Entwürfe werden aber nicht den Herausforderungen unserer Zeit gerecht und sind pädagogisch und didaktisch rückschrittig. Wir sind der Meinung, dass die Schule ein Ort ist, an dem Schüler*innen sich zu (zukünftigen) Gestalter*innen unserer Gesellschaft bilden sollten. Diesem Anspruch kommen die Entwürfe der Bildungspläne nicht nach. Der Rückschritt zu Kerncurricula und damit die Abwendung von reinen kompetenzorientierten Bildungsplänen widersprechen unserer und der Breite der pädagogischen wissenschaftlichen Vorstellung von einer modernen Pädagogik. Wir halten es für einen Fehler, dass die Abkehr der kompetenzorientierten Bildungspläne im Rahmen des Schulstrukturfriedens beschlossen wurde. Trotzdem wollen wir in diesem Positionspapier im Rahmen der Beschlüsse des Schulstrukturfriedens unsere weitergehende Kritik an den Entwürfen für die Bildungspläne darlegen.

Überfüllte Kerncurricula und veraltetes Leistungsprinzip verhindern gerechte und inklusive Bildungspläne 

Kerncurricula 

Durch die Umgestaltung der Bildungspläne in Kerncurricula wird nun vorgegeben, was in welchem Unterricht thematisch gelernt werden soll. In den Rahmenplanentwürfen der einzelnen Fächer finden sich jedoch nicht Kerncurricula wieder, sondern Curricula, die aufgrund ihrer Stofffülle viel mehr Vollcurricula entsprechen.

Die Fülle des Unterrichtsstoffes erzeugt Leistungsdruck, da der Unterricht sich primär auf das Abarbeiten des Unterrichtsstoffes fokussieren muss. Schüler*innen stehen in der Schule grundsätzlich unter einem vergleichenden Leistungsdruck, der sie zwingt zu beweisen, dass sie besser sind als ihre Mitschüler*innen. Eine Abkehr des vergleichenden Leistungsprinzips zugunsten einer echten Inklusion in der Schule lässt sich selbstverständlich nicht alleinig durch die Überarbeitung von Bildungsplänen erreichen. Trotzdem hätten wir uns gewünscht, dass die neuen Bildungspläne dem auch vor allen durch Corona noch einmal gestiegenen Leistungsdruck und all seinen Folgen für die psychische Gesundheit für Schüler*innen entgegenwirken. Durch die Fülle der Kerncurricula kommt es allerdings zum gegenteiligen Effekt: Schüler*innen und Lehrer*innen sind gezwungen, sich durch die zu vollen Bildungspläne zu arbeiten. Folglich können sie keinen Unterricht gestalten, der Kompetenzen vertieft und Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht. Lehrer*innen können dem Anspruch an eine guten und vor allem inklusive Begleitung der Schüler*innen nicht gerecht werden, wenn die Fülle des Unterrichtsstoffs auf dem Niveau der Entwürfe bleibt. 


 Leistungsbewertungen

Nicht nur die Fülle an Inhalt, sondern insbesondere die Leistungsüberprüfungen verursachen einem enormen Druck bei Schüler*innen und hemmen den Lernerfolg. Die überarbeitete Gewichtung der schriftlichen Leistungen, dem Wegfall von Klausurersatzleistungen und Erhöhung der Anzahl an Klausuren hat zur Folge, dass Schüler*innen mehr Zeit für Auswendiglernen und reine Wissensreproduktion aufwenden müssen. Dadurch bleibt noch weniger Zeit für die notwendigen informellen Lernerlebnisse von Schüler*innen bei Freizeitaktivitäten und an außerschulischen Lernorten. Diese Lernerlebnisse spielen eine essentielle Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung und die freie Entfaltung junger Menschen. Zusätzlich demonstriert dieser Fokus auf die schriftlichen Leistungen ein rückwärtsgewandtes Lernverständnis. Denn  Klausuren sind punktuelle Leistungsabfragen, welche weder zu der Vertiefung von Wissen noch zum Erlernen von Kompetenzen führen. Sie fördern das Bulimielernen und verhindern nachhaltiges Lernen. Anstatt die Anzahl der punktuellen Abfragen zu erhöhen, wäre es sinnvoller, mehr Zeit für  Übungen im Unterricht durch weniger Klausuren zu ermöglichen. Doch auch dies ist aufgrund der übermäßigen Inhaltsfülle nicht möglich. 

Psychische Belastung und Coronafolgen

Schon vor der Pandemie haben wir gesehen, wie stark Schüler*innen durch das Bildungssystem belastet werden. Anstatt gegen diesen ungesunden Leistungsdruck und der damit einhergehenden Belastung vorzugehen, wird diese durch die Fülle an Inhalten und Fokussierung auf schriftlichen Leistungen verschärft. Das führt nicht selten zu Erschöpfungssymptomen wie Burn-outs. Die Anzahl psychisch erkrankter Jugendlichen ist von 2007 bis 2017 um 120% gestiegen. Überarbeitete Bildungspläne müssen darauf Antworten haben. Der vorliegende Entwurf der Bildungspläne nimmt sich dieser Problematik allerdings nicht an und verschärft sie zusätzlich.

Inklusion 

Die Bildungspläne werden dem Anspruch inklusiver Bildung nicht gerecht. Sehr vereinzelt wird zwar von der Heterogenität der Schüler*innenschaft gesprochen, trotzdem wird das Thema Inklusion aber stark vereinfacht und heruntergebrochen. Der nur neun Zeilen kurze Absatz zu Inklusion bricht diese auf die Förderung von schulischer Teilhabe und Begabungsspektren herunter. Für uns ist eine echte Inklusion jedoch so viel mehr und sollte der Grundsatz der gesamten Bildungspläne sein. Inklusion ist das Akzeptieren und Fördern davon, dass wir alle unterschiedlich sind, unterschiedlich lernen, die Welt unterschiedlich wahrnehmen und unterschiedliche Interessen haben. Unserer Gesellschaft wird durch Diversität und Unterschiedlichkeit bereichert. Dies sollte unsere Bildung widerspiegeln und nicht untergraben. Die Bildungspläne suggerieren, dass alle Schüler*innen gleich gut in allen Themenbereichen sein müssen und legen wenig Wert auf Individualisierung. In der Leitperspektive Wertebildung wird von „Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten des Individuums“ gesprochen. Dies ist zwar wünschenswert und wichtig, jedoch lassen die Bildungspläne davon so bisher nichts richtig spüren. In der Stofffülle und den starren Strukturen ist wenig Platz für soziale Lehr– und Lernformen, Freiräume, Teamarbeit, Persönlichkeitsbildung sowie der Chance, einfach mal etwas auszuprobieren. Es muss in der Struktur unserer Bildung verankert sein, dass alle Menschen unterschiedlich sind und auch so gefördert werden.

Wir sehen deswegen an den aktuellen Entwürfen folgenden  Änderungsbedarf:

  • Eine drastische Reduzierung der in den Kerncurricula vorgeschriebenen Inhalte.
  • Eine reduzierte anstatt einer verstärkten Gewichtung schriftlicher Prüfungsleistungen.
  • Die Anerkennung der enormen Belastungslage von Schüler*innen auch in den Inhalten der Bildungspläne.
  • Eine Stärkung der Inklusion in den Bildungsplänen. Das bedeutet, dass die Bildungspläne vor allem auch in den Rahmenplänen im Sinne eine Pädagogik der maximalen Heterogenität weiterentwickelt werden müssen. Individualisiertes inklusives Lernen sollte sich wie ein roter Faden durch die Pläne ziehen. 

Die Bildungspläne ermöglichen kein  zukunftsgerichtetes Lernen

Lernen in einer digital geprägten Gesellschaft

Neben der Fülle der Inhalte sind auch die Inhalte selbst nicht angemessen, wenn die überarbeiteten Bildungspläne Schüler*innen auf die Herausforderungen unserer Zeit vorbereiten sollen. In einer Gesellschaft, in welcher alle historischen Daten im Netz abrufbar sind, künstliche Intelligenzen unsere Texte korrigieren und überarbeiten oder Apps unsere Mathe-Hausaufgaben machen können, scheint vieles bisher in der Schule Gelerntes obsolet zu sein. Vorausschauendes und kritisches Denken, autonomes Handeln, soziale Kompetenzen sowie Kreativität und vieles Weitere sollte im Fokus stehen. Obwohl diese Skills zum Teil im A-Teil aufgeführt werden, ist es für Lehrkräfte durch die Inhaltsfülle der Kerncurricula kaum möglich ihren Unterricht so zu gestalten, dass diese Kompetenzen tiefgehend erlernt und von Schüler*innen entwickelt werden können. Schüler*innen müssen nicht bloß wissen, was in den Schriftwerken berühmter Autor*innen aus dem 18. Jahrhundert steht, sondern, wie sie Textprogramme zum Schreiben ihrer Hausaufgaben nutzen können, wie sie mit zehn Fingern tippen, wie sich Fake News von echten Informationen unterscheiden und welche Rolle digitale Medien in unserer Gesellschaft einnehmen. Die Bildungspläne suggerieren eine falsche Art davon, auf was es in unserer digitalen Welt ankommt. Schüler*innen lernen digitale Kompetenzen nicht, indem sie Klassenarbeiten am Computer schreiben oder digitale Aspekte punktuell in den Rahmenplänen auftauchen. Die grundsätzlich richtigen Ansätze der Leitperspektive Leben und Lernen in einer digital geprägten Welt und die Strategie Bildung in der digitalen Welt der Kultusminister*innenkonferenz (KMK) fließen leider nicht ausreichend in die Rahmenpläne ein. Zudem muss angemerkt werden, dass sich nicht alle Schüler*innen digitale Endgeräte und Software leisten können, was konsequent ausgeglichen werden muss, um  bestehende Disparitäten nicht zu fördern.

Bildung für nachhaltige Entwicklung 

Ein weiter unserer Kritikpunkte, wenn es um die Frage der Zukunftsfähigkeit des Schulsystems geht, bezieht sich auf die mangelnde Umsetzung von der Leitperspektive Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). BNE ist ein Konzept zur Transformation des Bildungssystems, welches eine partizipative, inklusive und moderne Lernkultur sowie eine Bildung an den Herausforderungen unserer Gesellschaft auf den Weg bringen soll. Diese wichtige Transformation wird im A-Teil aufgeführt, jedoch bekommt BNE in den Rahmenplänen für die einzelnen Fächer nur punktuelle und willkürlich Auftritte. Die Behandlung der gesellschaftlichen Herausforderungen im 21. Jahrhundert und die Diskussion über mögliche Lösungsansätze sollten keine kleine Nebenrolle in den Modulen der Rahmenpläne spielen, sondern diese im Sinne von problemorientierten Modulthemen strukturieren. Im Status quo der Entwürfe fehlt zudem eine Umsetzung von BNE auf didaktischer Ebene. Es bräuchte eine explizite Förderung von fächerverbindendem und projektorientiertem Lernen, Lernen in und mit außerschulischen Orten als auch eine grundlegende Schüler*innenbeteiligung.    

Demokratiebildung

Anknüpfend an BNE sehen wir Änderungsbedarf in der Frage nach echter Partizipation und Schüler*innenmitbestimmung. Um Schüler*innen zu  mündigen Gestalter*innen unserer Gesellschaft zu bilden, müssen sie mit grundlegenden Partizipationsmöglichkeiten und Demokratiebildung in Kontakt kommen. Eine Werteorientierung, wie sie in den jetzigen Entwürfen formuliert ist, reicht dafür nicht aus. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu stärken und Chancen aufzuzeigen, dass Dinge verändert werden können, muss gestärkt werden. Dies ist nicht alleinige Aufgabe von außerschulischen Institutionen, sondern muss stärker in die Schule Einzug nehmen. Jugendliche sollten in der Schule lernen, dass sie eine zivilgesellschaftliche Stimme haben und wissen, wie sie diese einsetzen und nach außen tragen können. Weiter muss das Prinzip der gelebten Demokratie in Schule gestärkt werden, um den antidemokratischen Zügen unserer Gesellschaft entschlossen entgegenzutreten. Verschiedene Prinzipien wie ein gestärkter Klassenrat oder die stärkere Einbeziehung von Schüler*innen in die Unterrichtsgestaltung müssen hier miteinfließen. Die konkrete Fokussierung und Förderung eben solcher demokratischer Kompetenzen, und vor allem die auf der Demokratiebildung fußenden didaktischen Ansätze einer echten Schüler*innenmitbestimmung wird durch die zu vollen Rahmenpläne und verschärften Leistungsbewertungen konterkariert.

Wir sehen deswegen an den aktuellen Entwürfen folgenden Änderungsbedarf:

  • Eine konsequente Umsetzung der KMK Strategie “Leben und Lernen in einer digital geprägten Welt”, die auch eine moderne Prüfungskultur weg von reinen Klausuren den Schulen ermöglicht. 
  • Im Rahmen der Entschlackung der Rahmenpläne eine strukturelle Verankerung von BNE auf didaktischer und inhaltlicher Ebene. 
  • Die Weiterentwicklung der Leitperspektive Wertebildung hin zu einer echten Leitperspektive Demokratiebildung, die als solche dann auch ausreichend Raum für Schüler*innenbeteiligung am Lernprozess in den Rahmenplänen einräumt. 


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